Die Erinnerung lebt fort
Eine Gedenkveranstaltung auf dem Deportiertenfriedhof in Gurs erinnert alljährlich an die Jüdinnen und Juden, die 1940 in das Dorf im Südwesten Frankreichs verschleppt wurden. Auch dieses Jahr nahm wieder eine rund 70-köpfige Delegation aus Deutschland an der Veranstaltung am 27. Oktober teil. Die Stadt Weinheim wurde vertreten durch Stadtrat Klaus Hafner, Dr. Thomas Ott, die Schülerin Henriette Heeb und die Auszubildende Emma Horn.
Mehr als 6500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden im Oktober 1940 nach Gurs deportiert, davon mindesten 65 aus Weinheim und den damals noch selbständigen Ortsteilen. Vor allem Ältere und Kinder überlebten die unmenschlichen Zustände im Lager nicht. Viele der Deportierten wurden zwischen 1942 und 1944 aus Gurs in die Vernichtungslager im Osten gebracht. Die Arbeitsgemeinschaft Gurs, ein Zusammenschluss von 20 Kommunen, organisiert aus diesem Grund jedes Jahr gemeinsam mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden eine Gedenkreise. Auf dem Friedhof wird der Opfer und der unmenschlichen Bedingungen erinnert, denen die Deportierten ausgesetzt waren.
In Gurs begrüßte der Bürgermeister der Gemeinde, Christian Puharré, die deutschen und französischen Gäste vor dem Friedhof. Nach einer Gedenkminute am Mahnmal des französischen Staates für alle Internierten und Verstorbenen des Lagers folgte der gemeinsame Gang zum Friedhof. Dort stehen mehr als 1000 Grabsteine mit den Namen und teilweise bestens vertrauten Herkunftsorten der im Lager Gestorbenen.
An das Lager selbst erinnert heute nur noch wenig. An seiner Stelle steht heute ein Wald, der Frieden und Ruhe ausstrahlt. Die Oktobersonne schien an diesem Sonntagnachmittag durch die herbstlich gefärbten Blätter und am Horizont leuchteten die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen. Und doch ist dieser idyllische Ort exakt der Platz, wo Menschen unter unwürdigsten Bedingungen in 382 fensterlosen Holzbaracken, auf engstem Raum zusammengepfercht leben mussten und in großer Zahl den katastrophalen hygienischen Bedingungen und der Mangelernährung zum Opfer fielen.
Die Reden auf dem Friedhof standen im Zeichen des Gedenkens und der persönlichen Schicksale der Deportierten. Aber auch die gegenwärtige Situation und der Schutz jüdischen Lebens kamen zur Sprache. Alle Redner wandten sich direkt an die anwesenden jungen Menschen und betonten die Bedeutung, neue und zeitgemäße Zugangswege für eine weiterentwickelte Erinnerungskultur zu schaffen.
Daniel Hager-Mann, Ministerialdirektor im Kultusministerium, widmete sich in seiner Rede dem jungen Karlsruher Hans-Jürgen Maier. Er kam im Alter von nur elf Jahren nach Gurs und wurde später nach Auschwitz deportiert und ermordet. „Das ist nur ein Fall von Tausenden, ja von Millionen. Das ist und bleibt unbegreiflich“, so Hager-Mann.
Auch Dietmar Späth, der Oberbürgermeister der Stadt Baden-Baden, die in diesem Jahr die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung der Reise übernahm, erinnerte an die Situation im Lager Gurs.In seiner Rede ging er auch auf die gegenwärtige Situation des jüdischen Lebens ein. „Israel und jüdische Menschen sind auch rund 80 Jahre nach dem Holocaust Zielscheibe unerbittlichen und unversöhnlichen Hasses. Dass wir hier gemeinsam stehen und gedenken, macht mir jedoch auch Mut, dass wir es als Gesellschaft schaffen, den antisemitischen Strömungen entgegenzustehen“, so Späth.
"Andenken würdigen und Erbe weitertragen"
Professor Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach über die Bedeutung des Erinnerns: „solange Gedenken aufrechterhalten und gepflegt wird, lebt auch die kollektive oder individuelle historische Erinnerung weiter.“ Abschließend sprach Max Brisson, Senator des Departments Pyrénées-Atlantiques. Er erinnerte an die Verantwortung des Vichy-Regimes und somit des französischen Staates für die „Mittäterschaft an diesem Ort,“ die das Lager Gurs zu einem „Vorzimmer von Auschwitz“ habe werden lassen. Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung trafen sich deutsche und französische Gäste zu einem Empfang im Gemeindezentrum von Gurs und auf Einladung der deutschen Delegation zu einem gemeinsamen Abendessen. Ehrengäste an diesem Abend waren der Sohn und die Enkelin des Operetten- und Filmkomponisten Leonhard Märker. Dieser hatte das Lager von Gurs überlebt und konnte 1943 in die USA emigrieren. Im Lager hatte er das Lied „Wird es Nacht im Camp de Gurs“ komponiert, dessen Melodie lange als verschollen galt. Zur Überraschung aller Anwesenden brachte ein eigens engagierter Tenor das Lied zum Vortrag, was nicht nur den Sohn des Komponisten zu Tränen rührte.
Ein wesentlicher Bestandteil der Gedenkreise nach Gurs ist die aktive Beteiligung junger Menschen. Deshalb nehmen jedes Jahr auch Jugendliche aus den Mitgliedstädten teil. Am zweiten Tag stellten Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Hohenbaden ihr Erinnerungsprojekt vor. Die Jugendlichen zeichneten minutiös den Lebens- und Leidensweg der Baden-Badener Familien Lieblich und Rosenthal nach, die am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert wurden. Teil der Präsentation war ein Beitrag von Aryeh Brett Levi, dem Ur-Urenkel von Philipp Lieblich. Levi meldete sich aus seiner heutigen Heimat New York City mit einer Videobotschaft. Darin bedankte er sich für das Engagement der Schülergruppe und der Arbeitsgemeinschaft und richtete einen Appell an die Jugendlichen, die Erinnerung an die Schicksale der Deportierten weiterzutragen.
Am Nachmittag besuchte die Delegation nochmals das Lagergelände. Dort schilderte Rita Althausen, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden und ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mannheim als „Z(w)eitzeugin“ die Erlebnisse ihres Vaters Oskar Althausen (1919-2001). Er war zusammen mit seinen Eltern verschleppt worden, jedoch gelang ihm als einem der wenigen die Flucht über die winterlichen Pyrenäen nach Spanien und in das britische Mandatsgebiet in Palästina bzw. nach Israel, von wo aus er 1951 nach Mannheim zurückkehrte und sein Leben dem Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde und der Erinnerung an das Lager Gurs widmete. Rita Althausens bildhafte Erzählungen an einer rekonstruierten Baracke halfen den Nachgeborenen, die ganze unbegreifliche Grausamkeit des Lagers Gurs besser nachempfinden zu können.
Allen Zuhörerinnen und Zuhörern wurde klar, dass sich aus dem Grauen von Gurs ein Auftrag ableitet. In den Worten von Senator Brisson: „Heute wollen wir uns an die Geschichte der Deportierten von Gurs erinnern. Lassen Sie uns ihr Andenken würdigen und ihr Erbe weitertragen. Damit unsere Kinder und Enkelkinder sich dieses Erbes bewusst werden, dass sie es verstehen und dieses Erbe auch in Zukunft würdigen. Lassen Sie uns den Weg des Teilens und des einander Zuhörens gehen und uns abwenden von Unwissenheit, Verachtung und Egoismus, die unweigerlich zu Hass und Gewalt führen!“
Das Lied von Gurs
Schön ist die Welt für viele,
bei ihnen geht alles glatt,
Doch daneben gibt es auch and’re,
die haben ihr Leben satt.
Alle machten sie einst Pläne,
und sie hielten sich dran fest.
Aus Plänen wurden Tränen,
weil sich das Leben nicht zwingen läßt.
In den Basses-Pyrénéen gibt es einen Ort,
wo Baracken nur stehen, kein Baum steht dort.
Dort kommt nur der hinein,
der kein Recht hat auf der Welt zu sein.
Und wer den Ort betrat,
den trennt von der Welt ein Stacheldraht.
In den Basses Pyrénéen hält Frankreich Wacht
über jenen der Ärmsten, der nichts verbrach.
Und wärst du heut ein Fremder,
dann scheint auch Dir’s
es gibt Verdammte nur
im Camp de Gurs.